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Hohe Dunkelziffer bei Altersdiskriminierung

Benachteiligungen sind in einigen Bereichen gesetzlich verboten, geschehen aber teilweise im Verborgenen

Ältere Frau an einem Fahrscheinautomaten.
Wird im Alltag zunehmend ein Smartphone vorausgesetzt, bedeutet das für viele ältere Menschen effektiv einen Ausschluss. Foto: Antonio / Adobe Stock

Noch zu jung oder schon zu alt? Benachteiligungen aufgrund des Lebensalters ereignen sich häufig im Beruf. Zu spüren bekommen das laut Antidiskriminierungsstelle des Bundes neben Älteren vor allem Frauen sowie Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten. Dabei verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Diskriminierungen im Arbeitsleben grundsätzlich.

Das AGG schützt vor Benachteiligungen aus rassistischen Gründen oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Allerdings gilt das allein im Beruf und bei Alltagsgeschäften. 

Warum das wichtig ist, zeigt sich am Beispiel junger Frauen. Sie erleben häufig Nachteile bei der Jobsuche und im Berufsalltag, weil Arbeitgeber*innen Ausfälle wegen Schwangerschaft und Mutterschaft befürchten. Ältere Menschen wiederum stehen aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung oftmals vor praktischen Barrieren, die ihnen die Teilhabe erschweren. Auch hier kann Altersdiskriminierung vorliegen.

Eine Befragung im Auftrag des Deutschen Zentrums für Alltagsfragen ergab kürzlich, dass sich jede dreizehnte Person in der zweiten Lebenshälfte aufgrund des Alters diskriminiert fühlt. Svenja Spuling, eine Autorin der Studie, wies darauf hin, dass die Aufmerksamkeit für negative Altersbilder und altersdiskriminierendes Verhalten gesamtgesellschaftlich vergleichsweise gering ausgeprägt sei. Die Studie könne dementsprechend nur die tatsächlich empfundenen Benachteiligungen erfassen. Dabei, so Spuling, nähmen auch die Betroffenen selbst eine ungerechtfertigte Benachteiligung aufgrund ihres Lebensalters nicht unbedingt als Diskriminierung wahr. Eine hohe Dunkelziffer sei somit nicht auszuschließen.

Handlungsbedarf besteht aus Sicht des SoVD in jedem Fall. Denn das Erleben von Altersdiskriminierung hat weitreichende Konsequenzen für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen. Strukturelle Benachteiligungen und Altersstereotype müssten daher konsequent abgebaut werden.

Soziologe Reimer Gronemeyer untersucht, wie sich Benachteiligungen auf die Gesellschaft auswirkenTeilhabe darf nicht vom Lebensalter abhängen

Reimer Gronemeyer ist Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Seit Langem schon beschäftigt er sich mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Die Abgelehnten“ setzt sich Gronemeyer intensiv mit dem Thema Altersdiskriminierung auseinander. Im Interview mit der SoVD-Zeitung zeigt sich der Wissenschaftler überzeugt, dass wir die aktuellen Herausforderungen nur meistern werden, wenn Menschen jeden Alters an der Gesellschaft teilhaben können.

Wann gilt man in Deutschland als alt?

„Man ist so alt, wie man sich fühlt“: Nein, das ist natürlich Quatsch. Mit 65 geht es ohne Wenn und Aber für die meisten ab in den Ruhestand. Manche freuen sich, manche fühlen sich abgeschoben. Mit achtzig gehört man zum alten Eisen und hört allenfalls den Satz: „Der ist aber noch ganz fit.“ Eigentlich eine freundliche Frechheit. Das heißt ja: Der Maßstab für alles ist die Jugend.
 

Deutschland hat eine der ältesten Gesellschaften der Welt. Der demografische Wandel bewirkt, dass ältere Menschen überproportionalen politischen Einfluss haben. Warum nennen Sie Ihr Buch „Die Abgelehnten“?

Ja, die Alten haben das Geld und die Macht. Sie entscheiden Wahlen und sitzen in abbezahlten Eigenheimen, sie reisen wie die Weltmeister und tragen mächtig zur Klimakrise bei. Dieser vergnügte Alterstanz spielt sich indessen über Abgründen ab. Wer da auf der „Aida“ vor den überquellenden Buffets steht, kann sich ja nicht darüber täuschen, dass die Alten etwas vergessen sollen: Dass sie zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Jedenfalls, wenn es nach den Jungen und den Machern geht. Noch nie waren Alte so gut versorgt und zugleich so radikal vom Leben ausgeschlossen.
 

Wie begegnen Sie dem Vorwurf, dass ältere Generationen unverhältnismäßig von den sozialen und wirtschaftlichen Systemen profitieren, möglicherweise zum Nachteil der jüngeren Generationen?

Das stimmt einfach. Aber da kommen wir nicht raus, indem wir uns gegenseitig beschimpfen: „Ihr Parasiten!“, tönen die Jungen. „Ihr Nichtstuer!“, giften die Alten. Die gemeinsame Krise eröffnet die Chance auf einen gemeinsamen, generationenübergreifenden Neuanfang.


Wie könnten wir sicherstellen, dass politische Entscheidungen die Bedürfnisse aller Generationen gleichermaßen berücksichtigen? Welche Mechanismen oder Änderungen schlagen Sie vor, um diesen Einfluss gerechter zu gestalten? 

Jedenfalls nicht durch Kommissionen, Kabinette, Konferenzen oder Koalitionen. Die Alten und die Jungen sollten vielleicht auch nicht „gleichermaßen“ berücksichtigt werden. Sie sind unterschiedlich, sie haben unterschiedliche Wünsche, sie leben in unterschiedlichen Lebensphasen. Die politische Kunst und die öffentliche Kultur bestünden darin, die Unterschiede blühen zu lassen und das Lebensglück der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und nicht die Gier.
 

Haben Sie angesichts der politischen Verwerfungen und wirtschaftlichen und ökologischen Krisen Verständnis für die Kritik der jüngeren an der älteren Generation?

Unbedingt, ja.
 

Wie ließe sich der Dialog unterschiedlicher Generationen fördern und das Verständnis zwischen jüngeren und älteren Menschen stärken?

Es gab früher viele Orte der Begegnung: Kirchen, Vereine, Familien- und Nachbarschaftsfeste. Diese Orte der Begegnung sind weitgehend verschwunden. Ich war einmal in Malawi. Dort gab es eine wunderbare Gewohnheit: Mittags trafen sich alle Dorfbewohner und jeder brachte zum Essen mit, was er mitbringen konnte: Alte und Junge, Männer und Frauen, Reichere und Ärmere. Ich glaube nicht, dass organisierte Begegnungen zwischen den Generationen viel bringen würden. Wir müssen das, was früher selbstverständlich war, neu gründen: Orte der Begegnung, vielleicht zusammen reden, zusammen essen, zusammen Musik machen, zusammen lernen, zusammen gärtnern.
 

Welche gesellschaftlichen Veränderungen wünschen Sie sich, um die Lücke zwischen den Generationen zu schließen?

Mut zum Probieren! Phantasie für neue Räume!
 

Sie sagen, die Digitalisierung könne Altersdiskriminierung verstärken. Lassen sich digitale Technologien so anpassen, dass sie echte Vorteile für die ältere Bevölkerung bieten?

Erst mal: Das nicht einfach schlucken, dass Bankfilialen geschlossen werden, dass man am Telefon nur auf einen Automaten stößt, dass es keine Kasse mehr im Supermarkt gibt, sondern nur noch Scanner. Aussprechen: „Wir sind damit nicht einverstanden!“ Die Digitalisierung wird voranschreiten, die Digitalisierung wird so elegant werden, dass Alte das auch hinkriegen. Aber den zähen Widerstand dagegen nicht aufgeben: Dass wir uns mit Apparaten abfinden sollen, statt Menschen zu begegnen. Ob in der Pflege oder im Supermarkt. Es geht um Widerspruch. Nicht alles gefallen lassen – das muss die Devise der Alten werden, die auch den Jungen nützlich ist.
 

Haben Sie Altersdiskriminierung schon am eigenen Leib erfahren?

Ich bin alt und fahre mit dem Auto vorsichtiger als früher. Ich weiß, dass ich nicht mehr so schnell reagiere wie früher. Das ist offenbar besonders für Jüngere eine Provokation. Ich werde angehupt, angeblendet und mit aggressivem Tempo überholt. Dann denke ich: Habe ich das früher auch gemacht? Und manchmal denke ich auch: Wart’s ab, eines Tages wird es dir auch so gehen.

 

Reimer Gronemeyers Buch „Die Abgelehnten“ ist erschienen bei Droemer, ISBN: 978-3-426-65988-5, und kostet 22 Euro.